Lieber DD.,
es ist weit nach Mitternacht, ich höre Taylor Swift und Sie ahnen zu Recht, ich befinde mich in einem desolaten Zustand. Als pathologischer Nachtmensch irritiert sie selbstredend nicht, warum ich Ihnen um diese Uhrzeit schreibe. Sie wollen wissen, wie ich und Taylor zu einander stehen, oder eher ich zu ihr, nachdem Sie sich so viele Jahre Mühe gegeben haben, mir vernünftige Musik nahezulegen. Nun, Sie wissen, ich habe diesen Hang zu monothematischer Popmusik alle paar Monate für einen Tag. Dazwischen höre ich nichts. Maximal Essay & Diskurs im Deutschlandfunk.
Sie dürfen sich darüber gerne erbrechen.
Ich wache jedenfalls zu dieser späten Stunde, weil ich zwar heute ein Projekt abgesagt habe, aber nicht aufhören kann, an dessen Fortentwicklung zu arbeiten. Die Arbeit ist derweil nicht mal eine, die mir vergütet würde. Ich darbe am existenziellen Rand ehrenamtlicher Laster.
„WTF?“, fragen Sie sich.
Nun denn. Es ist ja so: Ich würde mit Ihnen heute gerne erörtern, nach welchen Motiven sich Menschen in ihrem Leben einrichten und wie sie insofern arbeiten. Oder sich durchs Leben rentieren. Das soll es ja auch geben. Begegnet mir in der U8 letztlich nur nicht so oft.
„Okayyyyy….“, höre ich Sie stöhnen. „Als hülfen all diese Phrasen“, höre ich Sie murmeln.
Nichts. Schon klar.
Sie müssen wiewohl zum einen wissen, dass dieses Projekt, von dem ich ein paar Zeilen weiter oben schrieb, von genau jenem Typus Mensch initiiert wird, der sich in solchen Verkürzungen durchs Leben paraphrasiert. Zum anderen bin ich ernsthaft bewegt, mich zu fragen, wie ich überhaupt jemals annehmen konnte zu meinen, nach irgendwelchen Motiven zu arbeiten, gar zu sein, sei eine gute Idee.
Sehen Sie, Sie trinken mittags Wein. Ich habe wiederum so eine Tendenz, mich in in Arbeit zu verlieren. Insbesondere, wenn sie einen vermeintlichen ideellen Mehrwert hat. Beides ist ab einem gewissen Grad gleichermaßen dysfunktional. Mit dem Unterschied, dass der Vielarbeitende in einer Gesellschaft wie der unseren gerade dann mit Applaus bedacht wird, wenn er kurz vor der Leberzirrhose steht.
Ich komme nicht umhin, immer wieder festzustellen – aber korrigieren sie mich gerne, wenn Ihnen das zu viel Berlin-Bubble ist -, dass genau dieses, das von welchen Motiven auch immer geprägte Sein einen – genau – nirgendwohin geleitet. Vielleicht haben die einen das mehr verstanden als die anderen und Erfolg meint in Wahrheit, genau diese Erkenntnis zu belohnen – im Zweifel durch Geld oder Ruhm: die zwei wichtigsten Glückskriterien einer Gesellschaft, die sich wie die deutsche der Leistungsfähigkeit als inhärenten Bestandteil ihrer DNA begreift.
Es ist ja so, während sich der eine oder andere Zeitgenosse in apokalyptischen Anmaßungen zum Klimawandel ergießt, frage ich mich dieser Tage vor allem viel zum Spätkapitalismus und inwieweit er in seinen Auswüchsen sukzessive am Selbstverständnis unseres Seins genagt hat. Nur, um mich zwei Minuten später zu fragen, inwieweit mit Kapitalismen, oder DEM Kapitalismus überhaupt irgendetwas, gar den Symptomen unserer Zeit beizukommen respektive zu erklären ist.
„Welche Symptome denn?“, höre ich Sie aus dem fernen Tal unken. Wobei: ich meine aus Ihrer letzten Replik auch eine Tendenz vernommen zu haben…
Es ist schon so, dass gerade irgendwas los ist, oder? Wie auch immer wir das benennen wollen – ganz zu Schweigen davon, ob sich dazu irgendwelche Thesen aufstellen ließen, wie es dazu kommen konnte. Trump, Brexit, Kernwaffen-Kim, Klima, Rohingya, Hunger, Gilets jaunes, Hongkong, die „gratismutigen“ Klimaretter rund um „Langstreckenluisa“ hierzulande (nicht mein Wortgebilde, ich verweise auf Ulf Poschardt)…. Geld, das von Banken nahezu aufsichtslos per ewigen Kredit-Blasen gedruckt wird, Sozialstaaten, die von den Imperativen der neoliberalen Freiheits-Fetischen zersetzt werden? Wobei: Freiheit! Aber es ist doch eigentlich klar, das Leben auf Kredit, dem Menschen gegenüber sadistisch formulierte Systeme wie HartzIV und Niedriglöhne kein gutes Rezept sind, um einen Staatsapparat stabil zu halten?!
Aber vielleicht ahne ich auch zu viel und bin allein insofern Teil des Problems. Da draußen zeigen sich in der Irritation über die Umstände ja so viele Menschen spirituell bewegt, finden Sie nicht? Als Historikerin fallen mir dazu aus der Wirtschaftsgeschichte unmittelbar die Maschinenstürme des späten britischen 19. Jahrhunderts ein, aber auch die Unruhen rund um die ersten Gehversuche demokratischer Verhältnisse in Zentraleuropa seit Attica ein. Irgendwie inmitten von Säkularisierung und Ökonomisierung muss es den Menschen schon einmal schwer gefallen sein, sich das Kommende vorstellen zu können. Weltflucht funktioniert in solchen Zeiten immer 1A. Klar.
Anders kann ich mir dieser Tage kaum erklären, woher all das Geschwurbel über Negativität und Resonanzen mit dem Universum, Yoga, Meditation als unabdingbare Grundlage für ein gelingendes Leben, Love statt Hate, Gefühle anstatt Verstand und die Annahme, es existierten toxische Menschen, rührt. Sollten Sie nun versucht sein: Denken Sie nicht zu viel, Herr D! Ich hörte, das sei am Ende nur schädlich. Als sei Denken an sich ein Ausweis über Ihren bereits erkrankten Geist. Hmm. Only Good News. Zufrieden sein als Zwang. Und was gibts dafür: nicht mal Sühne für all den Happiness-Aufwand. Kein Schuldenerlass am Saum früherer kirchlicher Institutionen. Alles vorbei. Stattdessen Moderne. Oder doch deren Ende?
Fühlen Sie sie nicht auch diese Korrelation? Ich kann kaum daran vorbeischauen, so deutlich zeichnet sich mir der Unfall, der durch all die Raserei, das ewige Wettrennen und daraus folgend die Erschöpfung, der Sekundenschlaf verursacht ward. Aber was weiß schon ich. Am Ende bin ich doch kein neoklassischer Ökonom. Ich glaube nicht an die Krise als Notwendigkeit des Marktes. Ich ahne, die Krise, von der gerade zu viele Menschen sprechen, wollen wir alle nicht erleben.
So sagen doch zumindest Sie mir, wofür wir uns wappnen sollen oder ob es Zeit ist, endlich ins Bett zu gehen?
Aus dem Halbschlaf,
Ihre K.